Nadine Karl
05.09.2025 – 26.10.2025
epiphenomenon
3AP
In ihrer künstlerischen Praxis erforscht Nadine Karl die vielschichtige Verflechtung von Zeitlichkeit und Fiktion. Im Zentrum ihres Schaffens stehen analytische Dialoge zwischen Skulptur und Installation, die konventionelle, lineare Zeitstrukturen kritisch hinterfragen. Ihre Arbeiten verwandeln ephemere und potenzielle Elemente in komplexe, sich überlagernde Zeit-Raum-Gefüge, die Konzepte von Identität und kollektiver Erinnerung dekonstruieren und eine dynamische, flüchtige Realität erfahrbar machen. Ein wesentliches Merkmal ihrer Praxis ist der multidimensionale Zugang über verschiedene Sinne: olfaktorische Elemente und Sound werden gezielt eingesetzt, um immersive Erfahrungsräume zu schaffen, die Wahrnehmung erweitern und destabilisieren. Dabei treten vermehrt öko-feministische Fragestellungen in den Vordergrund.
Karl bezieht sich auf Diskurse des ökologischen Feminismus, der planetaren Empathie und der „more-than-human world“, um neue Formen der Verbundenheit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen zu imaginieren. Ihre Installationen eröffnen (fiktionale) Räume, die Zeit und Raum als flexible, von sozialen wie ökologischen Faktoren beeinflusste Konstrukte inszenieren. Sie laden die Betrachtenden ein, ihre eigenen Positionen im Beziehungsgeflecht von Körper, Umwelt und Narration zu reflektieren. Literatur und Film – als Formen verdichteter Zeit – spielen in Karls Werk eine zentrale Rolle. Ihre Arbeiten bedienen sich unterschiedlicher filmischer und literarischer Vokabulare, oszillieren zwischen Genres und Erzählformen und lassen hybride Zwischenräume entstehen.
Diese komplexen Ansätze verdichten sich exemplarisch in der Ausstellung „epiphenomen“ (Epiphänomen), die sowohl die Ausstellungsfläche der Galerie – in einer ehemaligen Werkstatt in Frankfurt-Sachsenhausen – als auch den angeschlossenen Luftschutzraum im Keller einbezieht. Der Kellerraum wird zu einem Erinnerungsarchiv, gefüllt mit Sand. Der Raum fungiert als Schwelle zwischen oben und unten, innen und außen, Erinnerung und Imagination. In einer Zeit, die zunehmend auf lineare Zeitvorstellungen und archivierte Identitätsentwürfe pocht, öffnet Karls Arbeit ein poetisches Terrain, in dem der Sand nicht nur rieselt, fließt oder fällt, sondern erzählt. Im Zentrum steht ein Gemisch aus Schmier- und Silbersand – ein Material, das sowohl als landschaftliches Fragment wie als metaphysische Chiffre fungiert. Der Sand erinnert an natürliche Erosionsprozesse und die menschliche Unfähigkeit, Zeit zu kontrollieren.
In Anlehnung an Hiroshi Teshigaharas Film Die Frau in den Dünen (1964) evoziert der Sand eine existenzielle Bedrohung: Der Mensch als Gefangener in einer amorphen, entgrenzten Welt aus Körnigkeit, Erinnerung und Ritual. Im Galerieraum fokussiert sich die Ausstellung auf eine Serie von Talismanen und Fotografien. Letztere entstanden während einer Artist-in-Residence in der Atacama-Wüste und reflektieren deren extreme Topografie, Lichtverhältnisse und geologische Tiefe. Die Fotografien fungieren als visuelle Resonanzflächen – nicht dokumentarisch, sondern poetisch verdichtet. Den skulpturalen Arbeiten – fragilen Glastalismanen mit rauer Oberfläche – liegt das Motiv der Transformation zugrunde: Sie verweisen auf Fulgurite, durch Blitzschlag geformte Glaskörper, die als Chiffren plötzlicher Umwandlung erscheinen.
Eingefasste Symbole wie Sanduhren, Haare oder Sorgenpüppchen verweisen auf eine Praxis der Veräußerlichung innerer Zustände. Ihre Präsentation unter Glaskuppeln zitiert museale Ordnungen, unterläuft jedoch deren klare Lesbarkeit – die Talismane bleiben rätselhaft, zwischen Schutzobjekt, Erinnerungsträger und imaginierter Erzählung. Ohne Anklage, doch mit stiller Eindringlichkeit entwirft Nadine Karls Arbeit die dürre Silhouette einer möglichen Realität – nicht als Prophezeiung, sondern als imaginierte Zukunft im Spannungsfeld von Erinnerung, Fiktion und geologischer Wahrheit.
3AP
Brückenstraße 76
60594 Frankfurt am Main
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